Erstmals in 20 Jahren hat 2022 die Inflation die Verzinsung der Pensions-kassen weggefressen und den Versicherten einen Realzinsverlust eingebrockt. Worauf müssen sich die Versicherungsnehmer in diesem Jahr einstellen?
Iwan Deplazes: 2022 dürfte nach aktuellem Stand ein Ausreisser sein. Der rasante Zinserhöhungszyklus hatte die Bewertungen von Aktien sowie den Obligationen zugleich in den Keller sausen lassen. Gepaart mit den hohen Inflationsraten haben wir 2022 zum ersten Mal seit zwanzig Jahren eine negative Realverzinsung gesehen. Im Gegensatz dazu haben sich die Aktienmärkte im ersten Halbjahr 2023 überraschend positiv entwickelt – selbst vor dem Hintergrund einer global drohenden Rezession.
Francesca Pitsch: Die im internationalen Vergleich tiefe Teuerung hierzulande hat sich im vergangenen Halbjahr abgeschwächt. Dies kann sich aber schnell wieder ändern, wenn man sieht, welche Strom- und Gaspreiserhöhungen zuletzt angekündigt wurden. Gemäss des Swisscanto Pensionskassen-Monitors dürften die Schweizer Vorsorgeeinrichtungen im ersten Halbjahr 2023 kumulierte Renditen – ohne Abzug von Kosten – von durchschnittlich 4,1 Prozent erwirtschaftet haben.
Die BVG-Kommission hat jüngst die Anhebung des Mindestzinssatzes auf 1,25 Prozent empfohlen, um der Teuerung Rechnung zu tragen. Was halten Sie davon?
Francesca Pitsch: Die Gewerkschaften forderten sogar 2 Prozent und mehr. Der aktuelle Vorschlag ist ein politischer Kompromiss. Nun wird der Bundesrat den Mindestzins festlegen. Das Zinsumfeld für neue Investitionen der Pensionskassen hat sich spürbar verbessert, zumindest liegen die Renditen von Schweizer Staatsobligationen wieder über dem geforderten Mindestzinssatz.
Iwan Deplazes: Die positiven Vorzeichen dürfen jedoch nicht darüber hinwegtäuschen, dass die Finanzmärkte weiterhin zwischen Inflations- und Rezessionssorgen schwanken. Angesichts der sich abzeichnenden wirtschaftlichen Abkühlung in der Schweiz und den wichtigen Wirtschaftsräumen – allen voran in den USA – und der damit zusammenhängenden Lage an den Finanzmärkten, ist nach wie vor grosse Vorsicht geboten. Die Vorsorgeeinrichtungen müssen zuerst wieder ihre Reserven aufbauen. Wie wichtig sie sind, hat das schwierige Anlagejahr 2022 verdeutlicht.
2024 kommt die aktuelle BVG-Reform und damit auch die Senkung des Umwandlungssatzes von 6,8 auf 6 Prozent vor das Volk. Braucht es denn diesen Schritt angesichts der Zinswende überhaupt noch?
Francesca Pitsch: Ja. Die Senkung ergibt sich vor allem aufgrund der höheren Lebenserwartung. Das angesparte Kapital muss schlicht länger ausreichen. Selbst ein Umwandlungssatz von 6 Prozent ist aufgrund der derzeitigen Marktzinsen noch immer viel zu hoch – aber die Lücke zum rechnerisch korrekten Satz, der sich je nach angewandten Rechnungsgrundlagen zwischen 4,8 und 5,2 Prozent bewegt, verkleinert sich.