Die Individualisierung beschäftigt uns schon lange. Nun leben wir zusätzlich in sozialen Blasen aller Art. Dominiert heute das Teilende in der Gesellschaft, Frau Rost?
Ich würde eher von einer Aufteilung oder einer funktionalen Differenzierung sprechen: Früher hatte jede und jeder nur eine Rolle oder allenfalls wenige Rollen inne. Heute sind wir Mitglied in einem Verein, in einem Freundesnetzwerk oder Teil einer Universitätsgemeinschaft und verteilen so unsere verschiedenen Identitäten oder Rollen auf verschiedene Organisationen; in der Soziologie verwenden wir deshalb auch den Begriff Organisationsgesellschaft. Heute ist nichts mehr möglich ohne Organisation – vom Geborenwerden bis hin zum Sterben.
Dann sind wir also gar nicht so individualisiert, wie wir immer glauben?
Wir haben das Gefühl, dass wir super-individualisiert sind, doch sind wir eigentlich nur kleine Rädchen in einem grossen Ganzen. Individualisierung ist also eigentlich eine Verkollektivierung, unsere Autonomie ist heute stärker eingeschränkt als früher – wir merken es nur nicht.
Gibt es überhaupt noch so etwas Umfassendes und Vereinendes wie «die Gesellschaft»?
Auf jeden Fall. Im demokratischen Sinne gibt es «die Gesellschaft», die politische Entscheide herbeiführt. Auch Geschlechternormen – wie hat eine «gute Frau» oder ein «guter Mann» zu sein – werden von «der Gesellschaft» definiert. Aber sonst gibt es «die Gesellschaft» so nicht oder nicht mehr, es sind immer Teilgesellschaften, die auf mich wirken.
Da wird es schwierig mit den gemeinsamen, verbindenden Normen …
Weil wir heute so viele Subgruppen haben, unterscheiden sich die sozialen Normen teilweise deutlich: Was für eine Gruppe normativ richtig ist, ist für eine andere völlig falsch. Das führt zu Orientierungsproblemen und Normenkonflikten – die gab es aber schon immer. Früher war die Stellung der Mitglieder in einer Gesellschaft jedoch eher festgelegt: Sie wurden in einen Stand oder eine soziale Gruppe hineingeboren und blieben dann auch darin. Heute machen wir uns Gedanken darüber, ob wir Vegetarier oder Veganer, Klimaaktivistinnen oder Umweltschützerinnen sind – das ist kognitiv anstrengend, meist emotional aufgeladen und oft konfliktbeladen.
Wie äussern sich diese Konflikte?
Der Auslöser von Konflikten ist häufig, dass einzelne der zivilgesellschaftlichen Interessengruppen gegen soziale Normen verstossen. Die Reaktion gegen diese Normenübertretungen kocht dann häufig so hoch, dass auch die Gegengruppe soziale Normen verletzt – und sei es nur die Norm der Höflichkeit. Das Problem ist, dass Drohungen und Aggressionen in Diskussionen oft mit Aufmerksamkeit honoriert werden, etwa in den sozialen Netzwerken.
Mit der Corona-Pandemie scheinen sich die Fronten nochmals verhärtet zu haben.
Entscheidend ist, dass Corona ein gesamtgesellschaftliches Thema war und nicht nur Subgruppen betroffen hat. Die Corona-Debatten haben gezeigt, wie verroht unsere Diskussionskultur heute ist. Weil viele nur ihre eigenen Ansichten und Normen haben gelten lassen, erlebten andere dadurch eine ernsthafte Identitäts- oder Statusbedrohung.
Wer sich bedroht fühlt, reagiert meist heftig …
In Anstandsurteilen werden andere Gruppen deshalb häufig mit krassen Metaphern bedacht, etwa wenn eine Gruppe eine andere als «Nazis» beschimpft. Was in sozialen Medien beginnt, schwappt dann oft in die klassischen Medien über und wird dort nochmals diskutiert.