Livia Lustenberger, junge Menschen sind in den Medien, insbesondere im Film und in der Werbung, omnipräsent. Es entsteht der Eindruck, der Jugend gehöre die Welt. Überhaupt strebt alles nach Jugendlichkeit. Deckt sich das mit Ihrer Wahrnehmung?
Das Streben nach einem jugendlichen Äusseren nehme ich auch wahr. In journalistischen Medien hingegen, dort also, wo Sichtweisen und Interessen verhandelt werden, ist die Jugend kaum sichtbar. Beispiel Corona-Pandemie: Die Anliegen von Kindern und Jugendlichen waren in der öffentlichen Debatte kaum ein Thema. Es wurde höchstens darauf hingewiesen, dass sich ein Teil der Jugendlichen nicht an die Massnahmen hält oder psychisch stark belastet ist. Das ist aber nicht repräsentativ. Einmal mehr wurde vor allem über die Jugend gesprochen, statt dass man sie selbst zu Wort kommen liess.
Auch in Wirtschaft und Politik haben junge Menschen selten das Wort. Für viele Machtpositionen qualifiziert man sich erst ab einem gewissen Alter: So liegt etwa das Durchschnittsalter in den Geschäftsleitungen der SMI-Firmen laut Schilling-Report 2022 bei 54 Jahren, im Schweizer Bundesrat sogar bei 61 Jahren. Warum?
Ich spreche lieber von Verantwortung als von Macht. Um Verantwortung für ein Unternehmen oder die Geschicke eines Landes zu übernehmen, braucht es Erfahrung. Sollen mehr junge Menschen in verantwortungsvolle Positionen rücken, müssen sie rechtzeitig an eine solche Rolle herangeführt werden. Kinder und Jugendliche brauchen die Möglichkeit, Bereiche des Lebens, die sie direkt betreffen, mitzugestalten. Ich denke da etwa an das familiäre Umfeld, die Schule, den Verein, das Quartier oder die Gemeinde als kleinste politische Einheit. Das sind gute Übungsfelder, um sich einzubringen und dem Alter entsprechend Verantwortung zu übernehmen.
Laut Avenir Suisse wird 2035 die Hälfte der Stimmberechtigten in der Schweiz über 60 Jahre alt sein. Es drohen eine Gerontokratie – eine Herrschaft der Alten – sowie ein Reformstau, wie wir ihn bei der Altersvorsorge bereits heute haben.
Es scheint naheliegend, dass bei der aktuellen demografischen Entwicklung die Interessen jüngerer Bevölkerungsteile an der Urne künftig noch weniger Gewicht haben werden. Vergessen gehen bei dieser Diskussion Kinder und minderjährige Jugendliche – sie sind nicht stimmberechtigt.
Benötigen sie eine stärkere Lobby?
Es ist die Aufgabe von uns Erwachsenen, Strukturen und Gefässe zu schaffen, damit Kinder und Jugendliche sich selbstständig einbringen und angemessen an der Gestaltung ihrer Lebenswelt teilhaben können. Das ist keine freiwillige Aufgabe, sondern ein Auftrag, der sich aus der UN-Kinderrechtskonvention ergibt, die die Schweiz 1997 ratifiziert hat. Die Konvention besagt, dass Kinder und Jugendliche ein Recht auf Teilhabe und freie Meinungsäusserung haben und in Entscheidungen, die sie betreffen, einzubeziehen sind.
Wie könnten solche Gefässe und Strukturen aussehen?
Ganz unterschiedlich. Auf Gemeindeebene könnten das zum Beispiel regelmässige, dem Alter angepasste Befragungen von Kindern und Jugendlichen zu verschiedenen Themen sein – etwa, ob sie sich auf ihrem Schulweg sicher fühlen. Es wäre aber auch möglich, sie direkt in ein Projekt zu involvieren, zum Beispiel bei der Planung eines Spielplatzes. Der Spielplatz entspricht dann den Bedürfnissen der Kinder und wird tatsächlich bespielt – das bedeutet auch einen effektiveren Einsatz von Ressourcen.
Was ist mit den Jugendparlamenten, von denen auch der Kanton Zürich eines hat?
Jugendparlamente sind eine prima Sache. Ich erlebe die Jugendlichen, die dem Zürcher Jugendparlament angehören, als sehr aktiv und engagiert. Es braucht jedoch bereits eine gewisse Affinität zur politischen Kultur der Schweiz, damit Jugendliche sich vom repräsentativen Parlamentsbetrieb angesprochen fühlen. Oft rührt diese Affinität vom Elternhaus her. Jugendparlamente erreichen deshalb nur einen Teil der Jugendlichen. Wichtig scheint mir, dass es ergänzend auch niederschwellige Angebote gibt, zu denen alle einen leichten Zugang finden. Das ist ein wichtiges Ziel beim Projekt «Euses Züri», das die politische Partizipation von Kindern und Jugendlichen in der Stadt Zürich institutionalisieren will. (vgl. Box unten, Anm. der Red.) Es entstehen Kinder- und Jugendversammlungen in den Quartieren sowie eine jährliche Jugendkonferenz auf städtischer Ebene, aus der Vorstösse zuhanden des Gemeinderats hervorgehen können. Diese Gefässe stehen allen offen.
Finden Vorstösse, die aus einer solchen Jugendkonferenz oder einem Jugendparlament hervorgehen, tatsächlich den Weg in den regulären Politbetrieb oder handelt es sich dabei um Papiertiger?
Das ist tatsächlich von Gremium zu Gremium unterschiedlich. Wichtig ist, dass gesetzlich geregelt ist, unter welchen Bedingungen und über welchen Prozess ein Vorstoss der Jugendlichen in den regulären Politbetrieb einfliesst. Die Hürden dafür dürfen nicht zu hoch sein. Bei «Euses Züri» ist dieser Prozess in der revidierten Gemeindeordnung der Stadt Zürich verankert, die Anfang 2022 in Kraft getreten ist. Unterzeichnen 60 Jugendliche einen Vorstoss, gelangt er zur Behandlung an das Präsidium des Gemeinderats.