Dass wir mit diesen Kompetenzen über unser familiäres Umfeld hinaus Vertrauen aufbauen können, ist also so etwas wie das Fundament unserer Zivilisation?
Vertrauen spielte für den Menschen immer schon eine grosse Rolle. Früher war die Religion die Instanz des Vertrauens. Sie vermittelte den Menschen das Gefühl, dass es immer etwas Höheres gibt, dem sie vertrauen können, auch wenn die irdische Welt ihnen nicht wohlgesinnt war. Mit der Aufklärung änderte sich dies, nun war unsere eigene Urteilskraft und Kritikfähigkeit viel mehr gefragt.
Vertrauen wurde zum Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten, sprich: zum Selbstvertrauen?
Zunächst bedeutete es ein Mehr an Selbstverantwortung, denn die Menschen mussten ihr Handeln von da an vor sich selbst rechtfertigen. Aber ja: Das Vertrauen in andere Instanzen wird dort zurückgedrängt, wo es mich hindert, mein eigenes Urteil zu entwickeln.
Selbstvertrauen ist ein fragiles Gut …
Sich selbst zu vertrauen bedeutet, sich selbst Kredit zu geben. Aber es ist auch eine Beziehungssache: Wenn ich mir etwas zutraue, braucht es auch Instanzen, die dieses Zutrauen teilen und insofern in mich investieren. Das ist ein fortlaufender Prozess, bei dem immer geschaut wird, ob das Zutrauen noch berechtigt ist oder nicht. Selbstvertrauen heisst auch, sich etwas zuzumuten. Und es beinhaltet das Risiko, zu scheitern.
Wie für das Weltvertrauen sind unsichere Zeiten auch für das Selbstvertrauen nicht gerade förderlich.
Sicher, sie können mich hemmen und blockieren, sodass ich etwas gar nicht erst beginne. Selbstzweifel können mich aber auch weiterbringen. Ich habe immer die Chance, mich zu korrigieren. Unsicherheit kann durchaus produktiv sein.
Gilt das auch im gesellschaftlichen Rahmen?
Durchaus. Ich sehe hier viel soziales Bewusstsein. Wir erfahren immer mehr über Missstände, stellen bestehende Systeme und angebliche Gewissheiten infrage. Viele Menschen setzen sich aber gerade auch in unsicheren Zeiten mit vielen Initiativen für Wertschätzung, Achtung oder Nachhaltigkeit ein. Empathie beglückt die Menschen, sie stärkt ihr Selbstwertgefühl. Ich glaube, es ist ein Grundvertrauen vorhanden, sich an der Schaffung von gutem Leben zu beteiligen.
Auf der persönlichen Ebene ist das aber nicht immer so: Wir klinken uns in Beziehungen ein und bei Bedarf zügig auch wieder aus …
Es gibt heute sicher auch viele Wegwerfbeziehungen, in denen Menschen nur benutzt werden oder die Selbstverwirklichung im Vordergrund steht. Der Ausweg wäre auch hier mehr Nachhaltigkeit: Die Menschen sollten sich wieder bewusst machen, was es heisst, in ein Vertrauensverhältnis zu gelangen mit anderen. Es geht um gegenseitige Wertschätzung und um Loyalität. Es geht darum, sich auf die Anliegen des anderen einzulassen und sich ihm gegenüber als vertrauenswürdig zu erweisen.
Wie gelingt das im Alltag, wenn wir spontan und ohne vertiefte Kenntnisse Personen und ihrem Handeln vertrauen sollen oder sogar müssen?
Das ist Teil unserer Intuition. Wir taxieren in kürzester Zeit die Selbstdarstellung unseres Gegenübers. Wir beurteilen etwa, wie jemand schaut, und stufen sie oder ihn dann als vertrauenswürdig ein oder nicht. Dieser erste Eindruck ist oft sehr stark, und es kann später schwierig sein, ihn zu korrigieren.
Was tun?
Das Wohlwollen des Gegenübers kann aktiv eingeholt werden, indem man sich bescheiden gibt oder im Gespräch gekonnt auf eigene Schwächen hinweist. So wird signalisiert, nicht über Allmacht zu verfügen.
Vertraut manch einer einem anderen Menschen nicht genau wegen dessen scheinbarer Allmacht?
Das Charisma von gewissen Menschen spielt hier sicher eine entscheidende Rolle. Gewisse Akteure – zum Beispiel in der Politik – schaffen es besser als andere, ihrem Publikum das Gefühl zu geben, dass es um ihr Wohl geht. Viele Menschen sind auch einfach nur froh, wenn jemand stark ist und die Dinge richtet.
Hat Vertrauen dann mit Stärke zu tun?
In gewissen Situationen schon. Zum Beispiel, wenn ich ein Firmenpatron bin und der nächsten Generation das Unternehmen anvertraue. Dann versuche ich vielleicht, auch einen Teil meiner persönlichen Stärke weiterzugeben. Ausgeübte Stärke kann aber auch sehr kontraproduktiv sein, etwa wenn ich nach der Geschäftsübergabe immer noch reinrede. Hier kann viel Vertrauen kaputtgehen.
Vertrauen geht in gewissen Momenten auch damit einher, Schwäche zu zeigen, oder?
Ja. Wenn wir uns einer Vertrauensperson gegenüber öffnen, heisst das oft, dass wir auch über unsere Schwächen sprechen. In solchen Momenten sind wir auch besonders verletzlich, wenn das gewährte Vertrauen missbraucht wird.
Und trotzdem sollen wir das Risiko des Vertrauens eingehen?
Unbedingt. Wenn ich anderen nicht vertrauen kann, bin ich rasch sehr einsam. Wir Menschen möchten vertrauen, weil wir das Wohlwollen der anderen möchten. Wir müssen aber auch vertrauen, weil unserer Autonomie Grenzen gesetzt sind. Sinnbildlich wird dies bei der Hilflosigkeit von älteren Menschen, die auf die Hilfe und Pflege anderer vertrauen müssen.
In vielen wirtschaftlichen Situationen sind wir auf ein rasches, fast blindes Vertrauen angewiesen, etwa wenn wir uns darauf verlassen, dass ein im Supermarkt gekauftes Lebensmittel nicht gesundheitsschädigend ist.
Hier geht es um so etwas wie Gewohnheitsvertrauen. Wir wenden das Prinzip des Wohlwollens auf unsere Umgebung an und gehen davon aus, dass sich die Gefahren in Grenzen halten, weil ja bislang auch meist alles gut gegangen ist. Erst ein allfälliger Skandal wühlt uns auf.
Im Konsumbereich sehen wir Vertrauen also oft einfach als gegeben an. Anders bei gewichtigeren Geschäftsabschlüssen: Wo früher ein Handschlag reichte, regeln heute Verträge alles ganz genau. Ein Zeichen schwindenden Vertrauens?
Eher ein Hinweis darauf, dass viele Geschäfte immer komplexer werden und wir nicht mehr auf Anhieb alle möglichen Implikationen überblicken. Der Handschlag symbolisierte ein allgemeines, wechselseitiges Fair Play. Der Vertrag hingegen schafft eine Sicherheit, die auf Kontrolle und nicht auf Vertrauen basiert.
Von den heutigen Arbeitnehmenden wird gefordert, flexibel und innovativ zu sein. Sind dafür nicht grössere Handlungsspielräume und mehr Vertrauen erforderlich statt Kontrolle?
Die Unternehmen geben ihren Angestellten in der Regel einen Vertrauensvorschuss. Er muss sich aber auch als angemessen erweisen. Ich erwähne hier nochmals das Prinzip des Kreditgebens. Damit verbunden ist immer auch die Frage, ob sich eine Investition in eine Person und ihre Ideen auch lohnt. Natürlich gibt es bei den meisten Projekten Ermessensspielräume, die nach Möglichkeit auch genutzt werden. Irgendeine Form von Kontrolle gehört aber eben meistens auch dazu.
Beim Marketing investieren viele Unternehmen oft immense Summen, um das Vertrauen ihrer Kunden zu gewinnen. Zahlt sich das aus?
Die Vertrauensrhetorik wird tatsächlich intensiv genutzt – und oft auch überstrapaziert. Es ist nachvollziehbar, dass heute jede Firma mit ihrem Produkt als vertrauenswürdig eingestuft werden will. Überall wird ständig von Vertrauen gesprochen, und ich soll als Konsumentin glauben, dass es doch nur um mich geht. Das ist aber meist ein Schein und manchmal auch schlicht eine missbräuchliche Rhetorik. Wenn mir durch wen oder was auch immer aufoktroyiert wird: «Vertraue mir!», dann entgegne ich: «Vertrauen kann man nicht befehlen.»
Vertrauen scheint auch in der Technik der einzig brauchbare Mechanismus zur Reduktion von Komplexität zu sein: Wenn ich die Funktionsweise eines Apparats oder Algorithmus nicht verstehe, bleibt mir nichts anderes übrig, als ihm zu vertrauen.
Schenken Sie diesen Dingen tatsächlich Vertrauen? Technikenthusiasten mögen das tun. Ich habe da einen eher eng gefassten Vertrauensbegriff. Natürlich bin auch ich gehalten, diese Dinge in meinen Alltag zu integrieren, und auch ich muss gewisse Kompetenzen erwerben, um mit ihnen umgehen zu können. Aber ihnen vertrauen? Für mich ist und bleibt ein Basiselement des Vertrauens, dass etwas zu meinem Wohl geschieht. Von einem technischen Gerät kann ich aber doch nicht ernsthaft erwarten, dass es mein persönliches Wohl im Blick hat.