Kaufkraftverlust in der Eurozone
Die rasant gestiegenen Konsumentenpreise beschäftigen die Haushalte weltweit und gerade einkommensschwache Bevölkerungsschichten sind bekanntlich stärker davon betroffen. Da die US-Firmen die Löhne allerdings deutlich schneller nach oben angepasst haben als die Länder in der Eurozone, hat sich die Kaufkraft sehr unterschiedlich entwickelt. Seit der Pandemie bis heute hat sich der Kaufkraftverlust – also die Differenz zwischen Inflation und Lohnwachstum – in der Eurozone auf rund 5 Prozent kumuliert. Viele Europäerinnen und Europäer sind also heute ärmer als 2019. Die Kaufkraft der US-Konsumentinnen und Konsumenten ist im gleichen Zeitraum gar leicht gestiegen. Wenig überraschend ist deshalb der europäische Privatkonsum sehr schwach ausgefallen.
In Europa wurden Ersparnisse nicht angezapft
Wie eine EZB-Analyse zeigt, wurden die während der Corona-Pandemie anhäuften Überschussersparnisse, die sich auf eine Billion Euro bzw. 12 Prozent des jährlich verfügbaren Einkommens beliefen, seither kaum angerührt. Gemäss der EZB ist dies auf die Verteilung der Ersparnisse zurückzuführen: Etwa die Hälfte der Reserven wurden von den 20 Prozent einkommensstärksten Haushalten angehäuft. Sie neigen dazu, zusätzliches Einkommen auf die Seite zu legen. Auf aggregierter Ebene widerspiegelt sich dies in einer überdurchschnittlich hohen Sparquote in der Eurozone. Ganz anders haben sich die US-Konsumentinnen und Konsumenten bisher verhalten, die seit über einem Jahr «entsparen» und damit das Wachstum stützen. In den USA hat die Fiskalpolitik während der Pandemie für einen Einkommensschub bei allen Haushalten gesorgt. Der grösste Teil dieser Ersparnisse ist mittlerweile aufgebraucht.
Zinssenkungen bedeuten nicht zwingend eine lockere Geldpolitik
Die konjunkturelle Schwäche Europas hat jedoch auch ihre positive Seite: Der Preisdruck hat deutlich abgenommen. Auf Jahresbasis hat sich die Gesamtinflation bereits mehr als halbiert und auch die Kerninflation, sprich die Gesamtinflation abzüglich Lebensmittel- und Energiepreise, lag kürzlich bereits nahe am Inflationsziel der EZB. Aufgrund starker Preisanstiege zum Jahresbeginn wird sich dies erst Anfang 2024 in der Jahresteuerung manifestieren. Spätestens dann wird die EZB nicht nur zum Schluss kommen, dass es keinen Bedarf an weiteren Zinserhöhungen gibt, sondern auch die sehr restriktiv ausgestaltete Geldpolitik oder zumindest deren Dauer in Frage stellen.
Aktuell scheint bei der Diskussion um die optimale Ausgestaltung der Geldpolitik die Tatsache in den Hintergrund geraten zu sein, dass graduelle Zinssenkungen vom aktuellen Niveau aus nicht mit einer lockeren Geldpolitik gleichzusetzen sind. Eine lockere Geldpolitik herrscht dann vor, wenn die EZB den Leitzins wieder unter den neutralen Zinssatz gesenkt hat. Dabei handelt es sich um ein theoretisches Konstrukt. Die meisten Schätzungen beziffern ihn zwischen 2,5 und 3 Prozent. Das heisst, dass die Geldpolitik erst nach fünf Zinssenkungen von jeweils 25 Basispunkten wieder auf neutralem Niveau angelangt wäre.
Normalisierung im 1. Halbjahr 2024
Um die optimale Geldpolitik im vorherrschenden makroökonomischen Umfeld quantitativ zu erfassen, haben die Expertinnen und Experten der Zürcher Kantonalbank einen EZB-Indikator erstellt (vgl. Grafik unten). Je schwächer das Wirtschaftswachstum, die Lage am Arbeitsmarkt und die Inflation ausfallen und je restriktiver das Leitzinsniveau ist, desto tiefer fällt der Wert dieses Indikators aus. Mit Ausnahme von 2019/2020, als der Leitzins bereits bei Null lag, hat ein Indexwert deutlich unter Null in der Vergangenheit stets den Leitzinssenkungszyklus vorweggenommen (rote Punkte). Die Anzahl Monate zwischen Auslöser und Leitzinssenkung lag jeweils zwischen zwei (2016) und sechs Monaten (2002). Im Oktober 2023 lag der geldpolitische Vorlaufindikator erstmals seit drei Jahren wieder unter der Null-Linie. Oder weniger technisch formuliert: Das aktuelle Umfeld spricht für Zinssenkungen im 1. Halbjahr 2024.