Versorgungslage noch nicht dramatisch
Im Rahmen des «REPowerEU»-Plans der EU soll die Abhängigkeit von russischem Gas allein dieses Jahr um zwei Drittel reduziert werden. Tatsächlich ist der Anteil der Gasimporte aus Russland binnen weniger Monate von 40 Prozent auf rund 20 Prozent gefallen. Ermöglicht wurde dies durch deutlich höhere Importe von Flüssiggas (LNG), insbesondere aus den USA. Gleichzeitig nahmen die Gasimporte über Pipelines aus Norwegen und Nordafrika zu.
In der Industrie wurde Gas mittels Zweistoffanlagen teilweise durch Öl ersetzt, während im Strombereich ein Teil des Gasverbrauchs durch Kohle substituiert wurde. Dies hatte zur Folge, dass die Gasspeicher in Europa trotz deutlich tieferer Lieferungen aus Russland zuletzt auf rund zwei Drittel der Gesamtkapazität gefüllt werden konnten. Das entspricht in etwa dem mehrjährigen Durchschnitt. Die Versorgungslage ist somit noch nicht dramatisch und die Situation präsentiert sich per Ende Juli wesentlich besser als noch im Vorjahr.
Anhaltende Unsicherheit für Wintermonate
Allerdings sind die Gas- und Strompreise in den vergangenen Monaten nochmals markant gestiegen und befeuern damit den hohen Inflationsdruck. Die tiefhängenden Früchte beim Ersatz russischen Gases sind zudem bereits gepflückt worden, und es wird nun zunehmend schwierig, weitere Fortschritte zu erzielen. So steht Europa beispielsweise bei den LNG-Importen in einem harten Wettbewerb mit verschiedenen anderen Ländern und verfügt bisher noch nicht über die erforderliche Infrastruktur, um den Anteil des Flüssiggases deutlich zu erhöhen.
In den Fokus der Politik rücken deshalb zunehmend auch Massnahmen zur Reduktion der Nachfrage nach Gas. Die Europäische Kommission strebt über die kommenden Monate im Rahmen des «Save gas for a safe winter»-Plans einen Nachfragerückgang von 15 Prozent an, um die Gasversorgung auch bei einem vollständigen Unterbruch der russischen Gaslieferungen sicherzustellen. Gleichzeitig steht die Drohung Russlands im Raum, den Gashahn weiter zuzudrehen.
Szenarien zu den wirtschaftlichen Auswirkungen
Der wirtschaftliche Ausblick ist somit unsicher und hängt stark von der Energieversorgung ab, weshalb sich eine Szenarioanalyse anbietet. Analog zur Situation zu Beginn des Ukraine-Kriegs betrachten die Experten der Zürcher Kantonalbank drei verschiedene Szenarien. Neben ihrem Basisszenario, in dem Russland weiter Gas nach Europa liefert, unterstellt die Zürcher Kantonalbank im Eskalationsszenario einen vollständigen Lieferstopp. Im Entspannungsszenario kommt es zu einer Annäherung zwischen Europa und Russland, weshalb die Energiepreise sinken.
Wirtschaftliche Stagnation im Basisszenario
Aus Sicht des CIO-Office der Zürcher Kantonalbank ist es am wahrscheinlichsten, dass die russischen Gaslieferungen in etwa auf dem aktuellen Niveau fortgesetzt werden. Russland erzeugt damit die maximale Wirkung: Einerseits werden die Regierungen in Europa ihre militärische und finanzielle Unterstützung für die Ukraine sowie ihre Sanktionen gegen Russland zunehmend hinterfragen. Andererseits erzielt Russland aufgrund der stark erhöhten Preise tägliche Einnahmen von rund EUR 300 Mio, was gegen einen vollständigen Lieferstopp spricht.
In ihrem Basisszenario erwarten die Experten der Zürcher Kantonalbank, dass die Gasspeicher bis zum Herbst ausreichend gefüllt sind und dass Europa ohne Gasrationierungen durch den Winter kommt. Die hohe Inflation, die schlechte Konsumentenstimmung und eine schrumpfende Industrie sorgen ab dem 4. Quartal aber gleichwohl für eine wirtschaftliche Stagnation, bevor ab Frühling 2023 eine konjunkturelle Erholung eintritt.
Umfangreiche Fiskalpakete der Regierungen verhindern ein Abdriften in die Rezession. Die Arbeitslosigkeit nimmt leicht zu, während die Inflation in der zweiten Jahreshälfte ihren Höhepunkt erreicht. Eine Stabilisierung der Energiepreise sowie eine Entspannung in den globalen Lieferketten lassen die Inflation danach bis Ende 2023 wieder in Richtung 2 Prozent sinken. Die Europäische Zentralbank (EZB) setzt ihren im Juli begonnenen Pfad der Zinsnormalisierung fort und hebt die Leitzinsen bis im 1. Quartal 2023 um insgesamt 200 Basispunkte an.
Stopp der Gaslieferungen führt zu tiefer Rezession
Im Eskalationsszenario werden die russischen Gaslieferungen vollständig eingestellt und die Regierungen in Europa aktivieren ihre Notfallpläne. Es kommt zu weitreichenden Gasrationierungen in der Industrie. Die Haushalte sind davon ausgenommen, bekommen die Energiekrise aber in Form stark gestiegener Gas- und Strompreise zu spüren. In der Folge steigt die Inflation bis auf fast 12 Prozent. Die Stimmung von Unternehmen und Haushalten bricht ein und es kommt zu einer tiefen Rezession mit steigender Arbeitslosigkeit. Das Bruttoinlandsprodukt der Eurozone nimmt um 2 bis 3 Prozent ab, wobei zwischen den Ländern grosse Unterschiede bestehen.
Die grössten Einbussen sind in jenen Ländern zu erwarten, in denen der Gasverbrauch und die Importabhängigkeit von Russland hoch sind und wo die Industrie über viele energieintensive Branchen verfügt und einen überdurchschnittlichen Beitrag zur Wertschöpfung liefert. Das ist insbesondere in Zentral- und Osteuropa der Fall, während Frankreich, Grossbritannien und Spanien deutlich weniger stark betroffen sind. Unter den grossen Volkswirtschaften ist der stärkste Einbruch in Deutschland und Italien zu erwarten. Trotz rekordhoher Inflation verzichtet die EZB ab dem 4. Quartal 2022 auf weitere Zinserhöhungen, da dies die Rezession vertiefen und verlängern würde. Stattdessen aktiviert sie ihr neues «Transmission Protection Instrument», um die langfristigen Zinsen tief zu halten.
Anhaltender Aufschwung im Entspannungsszenario
Im unwahrscheinlichen Fall, dass es zu einem raschen Ende des Ukraine-Kriegs oder zu einer Aufhebung der Sanktionen gegen Russland kommt, würden die Energiepreise rasch sinken. Die Inflation nimmt somit schneller ab als im Basisszenario, bleibt jedoch erhöht. Die EZB setzt die geldpolitische Normalisierung deshalb zügig fort und erhöht die Zinsen deutlich. Das Wachstum bleibt aber robust, weshalb Staaten, Unternehmen und Haushalte die höheren Zinsen gut verkraften können.